Montag, 12. Januar 2015

Gibt es "das Böse"?



Die schrecklichen Terroranschläge dieser Woche in Paris (wie auch an vielen anderen Orten der Welt) erscheinen den meisten Menschen als abgrundtief schlecht und dienen nicht wenigen als Bestätigung dafür, dass es etwas Böses tatsächlich gibt.

Ich glaube nicht an das Böse, genauso wenig wie ich an das Gute an sich glaube.
Gut und böse sind religiöse Kategorien. Über uns schwebende verbindliche Werte zu sehen, setzt einen Glauben voraus, der, auch wenn er sich nicht auf Gott und Teufel, Himmel oder Hölle bezieht, eine klare Richtschnur suggeriert.

Die Gewissheit von schwarz und weiß, richtig und falsch.

Verbunden mit sehr einfachen Denkmustern, die vermeintlich sicheren Halt bieten - und doch fundamental irren….

Denn die Welt ist nicht so einfach gestrickt. Die Realität erweist sich beim näheren Hinsehen als unendlich vielfältig - und stets sind darin vermeintlich Gutes und vermeintlich Böses vereint.


Doch tief innen wollen Menschen in der Regel auf irgendeine Weise wichtig, wertvoll und in einem positiven Sinne vielleicht sogar besonders sein.
Wer will sich nicht auf der richtigen Seite fühlen, seinerseits mit dem, was er denkt und tut, richtig liegen, um an der Seite der Guten und mit dem „Guten“ verbunden durchs Leben zu ziehen?

Aber was ist richtig? Was ist menschlichem Wohle wirklich dienlich, und was bringt uns womöglich sogar gemeinsam voran?

Dies herauszufinden, ist stets sehr schwierig. Was eben noch sinnvoll war, kann im nächsten Moment schon unsinnig sein, und zudem steht mit dem Ja und Nein jeder allein - weil man die Verantwortung für eigene Entscheidungen letztlich sowieso niemals wirklich abtreten kann.

Viel leichter scheint es, das angeblich Gute im Gegensatz zum vermeintlich Bösen zu definieren. Feindbilder machen Orientierung leichter. Denn über das, was schlecht ist, kann man sich einfacher einigen. Ein monströses Verbrechen führt ggf. Millionen in der Antwort darauf zusammen.

Doch das vermeintlich Böse macht die vermeintlich Guten nur vordergründig stark. Gegen den bösen Feind vereint, kann man sich zwar an der Seite derjenigen, die sich dagegen solidarisieren, mit noch größerer Gewissheit richtig fühlen - selbst wenn sich die Meinungen darüber, was zu tun wäre, mitunter diametral widersprechen.

Viele sogenannte Gutmenschen brauchen persönlich das Böse und die Bösen als Feinde des Guten sogar, um ihre eigenen Widersprüche oberflächlich aufzulösen und sich selbst als gut zu wähnen. Dann glauben sie, dass sie ihrerseits allein schon deshalb automatisch auf der Seite der Guten wären, wenn sie sich gegen ein vermeintlich Böses wehren.   

Damit auch die letzten eigenen Zweifel ausgerottet möglichst werden, sollte zusätzlich das eigene Weltbild siegen. Denn schon längst lassen wir uns nicht mehr von dem, was wir innerlich spüren, leiten. Wir sind auf klare Vorstellungen von gut und böse angewiesen, weil wir über Jahrtausende als Menschen in allen Kulturen nach außen ausgerichtet wurden. 
Wir haben das Vertrauen und den tiefen Kontakt zu uns selbst verloren und brauchen nun die Orientierung an vermeintlich absoluten Wertsystemen, um uns selbst als wert zu fühlen. Und dieses eigenen Selbstwerts wegen, werden die jeweiligen Wertsysteme oft sogar von vielen über das eigene Leben und erst recht über das Lebensrecht von Andersgläubigen gestellt.

Doch indem Menschen ihre eigenen Maßstäbe verabsolutieren, um dann für das angeblich unzweifelhaft Gute (also gegen das aus ihrer Sicht Böse) zu kämpfen, handeln sie am Ende nicht anders, als sie es den vermeintlich Bösen vorwerfen.
Der Kampf an sich ist der Unsinn und mit ihm der Glaube an das Böse, der dem vermeintlichen Feind übergestülpt wird.
Eigene Gewissheit gehört zu jedem Überzeugungskrieg.

Die eigenen Werte- und Glaubenssysteme als die einzig legitimen, richtigen und wahren Maßstäbe zu sehen, gehört zum alten Denken, das nicht weiterhilft sondern seit jeher die unentbehrliche Grundlage für alle Kämpfe um eine angebliche Wahrheit bildet.


Ob irgendetwas gut oder schlecht ist, ob man sich selbst im Recht fühlt und einen anderen ins Unrecht setzt, wird immer aus den jeweils eigenen Wertsystemen heraus definiert. Und da auf dieser Welt sehr unterschiedliche Sichtweisen mit nicht selten entgegengesetzten Maßstäben gelten, kann ein Verhalten, das für die einen als Heldentat gilt, für andere ein verabscheuungswürdiges Verbrechen darstellen.
Ob ein Tötungsdelikt als Mord oder unvermeidbarer Kollateralschaden klassifiziert wird, ist letztlich allein Ansichtssache, die sich aus dem jeweils eigenen Wertesystem und Blickwinkel ergibt. Legitimer Kämpfer oder Terrorist - wer unterscheidet das?

Aus der eigenen Überzeugung heraus wird mit zweierlei Maß gemessen. 
Gewalt, die man selbst im Namen des vermeintlich Guten anwendet, wird grundsätzlich anders bewertet (gerechtfertigt, alternativlos, allenfalls bedauerlich) als das Handeln der vermeintlich Bösen (das man entsprechend willkürlich, grausam und verbrecherisch ansieht).
Nahezu täglich werden neben angeblichen Terroristen, die man ohne irgendein allgemein gültiges Recht und ohne jeden Richterspruch zu solchen erklärt, auch Zivilisten durch amerikanische Drohnen liquidiert, worüber man sich in der nach eigener Einschätzung zivilisierten Welt kaum empört. 

Ich habe mich oft gefragt, wie es sich wohl anfühlen muss, in einem Land zu leben, wo jederzeit „aus heiterem Himmel“ heraus Autos auf der Straße durch Bomben oder Raketen zerfetzt, Menschen in der Nähe mit in den Tod reißen können - egal ob solche Explosionen durch irgendwelche idiotischen Extremisten oder durch Raketenangriffe von Drohnen erfolgen, die auf vermeintliche Terroristen zielen.

War es nicht ebenso kaltblütig und brutal, einem Osama Bin Laden (zum Wohlgefallen vieler) aus nächster Nähe (durchaus kalkuliert) mitten ins Gesicht zu schießen (statt ihn dem internationalen Gerichtshof vorzuführen)? Nicht viel anders haben es die Attentäter von Paris mit dem am Boden liegenden Polizisten (ihrem - aus ihrer Sicht - Feind) getan. Aber auch diese Mörder betonten (ob man es hören mag oder nicht) ihre Absicht, keine Zivilisten töten zu wollen. - Sie sahen einfach nur aus ihrer schrecklich dummen Überzeugung heraus diejenigen, die sie selbst ermordeten, nicht als Zivilisten an. (Tatsächlich ließen sie den Fabrikbesitzer laufen, töten auch an der Tankstelle nicht und hätten wohl unzählige weitere Möglichkeiten zur Ermordung vieler anderer Zivilisten besessen).


Doch egal ob Zivilist oder Soldat (warum überhaupt diese Unterscheidung?) - wir alle sind Menschen! Und es gibt keine echte Rechtfertigung dafür, irgendeinen anderen Menschen gegen seinen Willen zu töten.
Zudem ist es stets der jeweils eigene Wahn, sind es die jeweils eigenen Feindbilder, die Menschen zu Feinden erklären, zu „Bösen“ - für welche die von den „Guten“ selbst proklamierten Menschenrechte angeblich nicht gelten. 

Wie wäre es, wenn wir vor diesem Hintergrund wenigstens selbst aufhörten, in Kategorien von Gut und Böse zu denken, nicht mehr mit zweierlei Maß zu mäßen, sondern stattdessen mit gutem Beispiel davon ausgingen, dass für alle Menschen tatsächlich die gleichen (uns alle tief innen verbindenden) Maßstäbe gelten!?
Wie wäre es, wenn wir uns in diesem Sinne selbst abwenden vom Kämpfen, uns wenigstens unsererseits vor diesem alten Glaubenssatz hüten, dass das „Gute“ über das „Böse“ zu siegen hätte - und stattdessen Vorbilder für verständnisvolle geistige Weite bieten? 

Längst geht es nicht mehr um Christentum oder Islam, nicht einmal um Gottgläubigkeit oder nicht. Wahre Alternativen können sich niemals aus einer (letztlich sowieso unmöglichen) dauerhaften Vorherrschaft irgendeiner Religion oder irgendeines anderen Denksystems ergeben.
Menschlicher Fortschritt zeichnet sich nicht durch Unterdrückung und Diskriminierung Andersdenkender oder durch eine besonders feste eigene Überzeugung aus.
Stattdessen: Raus aus den Gewissheiten!

Die grundlegende geistige Herausforderung, vor der heutzutage jeder Mensch steht, ist die eigenverantwortliche Entscheidung zwischen rückständigem (an vermeintlich absoluten Wahrheiten und Werten orientierten) und vorwärts gewandtem (offenen, fragenden, zweifelnden, weiten und immer weiter forschenden - unsicheren) Denken, zwischen zwei Denkweisen, die sich in der globalisierten Welt zunehmend häufiger begegnen.


Den Ausweg aus den alten, noch heute wirksamen unsinnigen Konflikten können jedoch nur geistige Offenheit und Weite bieten - die man aber niemandem verordnen sondern nur selbst vorleben kann, indem man selbst kritisch gegenüber dem eigenen Denken und sehr vorsichtig in Bezug auf die eigenen Überzeugungen bleibt.


Nichts spricht dagegen, eigene Standpunkte zu beziehen, die sowieso unvermeidlich sind - solange wir die eigenen Positionen mit einem inneren Fragezeichen versehen und die Werte, die wir nach derzeitigem Wissen, Gespür und Gewissen für die richtigen halten, allein dadurch nach außen vertreten, dass wir sie unsererseits vorleben?


Denn selbstverständlich ist nicht gleich, wie Menschen sich verhalten. Unterschiedliches Verhalten führt zu unterschiedlichen Konsequenzen. Und es ist nur natürlich, dass wir als Menschen auch nicht alles, was uns widerfährt, tatsächlich mögen.
Ich halte es für richtig, innere Ablehnung zu spüren und sich dementsprechend zu positionieren. Doch ist es unsinniger Wahn, daraus Feindschaften zu konstruieren.

Wie wäre es, wenn wir das vermeintlich Böse einfach nur als Unfähigkeit verstehen, mit dem vermeintlich Guten umzugehen? Wenn wir das, was uns stört, nicht als Böswilligkeit sondern eher als Dummheit, Wahn und geistig-emotional Inkompetenz interpretieren - die es vielleicht in irgendeinem anderen Zusammenhang auch bei uns selbst irgendwo gibt?
Wie wäre es, wenn wir uns selbst (und die eigenen Maßstäbe!) nicht mehr als unfehlbar verstehen, sondern uns auf der Grundlage eigener Fragen gemeinsam um ein Verständnis dessen, was für uns alle vorteilhaft sein könnte, bemühen?

Wie leicht ließe sich mit solcher Haltung sofort „am eigenen Leibe spüren“, wieviel weniger aggressiv, wütend und „böse“ wir dann selbst auf uns nicht passende Standpunkte von anderen reagieren….