Donnerstag, 5. August 2010

Glauben, Wissen, Verständnis, Weisheit


Wie kann man Glauben, Wissen, Verstehen und Weisheit stimmig definieren und sinnvoll von einander unterscheiden?


Mein Vorschlag:


1. Glauben

Frage: "Was ist?"



Was man nicht überprüfen kann, kann man nur glauben - doch es wird dadurch nicht wahr.


Glauben ist eine kindliche Vorform von Wissen.


Die Fähigkeit, glauben zu können, ist ebenso angeboren wie die des Imitierens.

Beide Fähigkeiten sind Voraussetzungen dafür, dass Kinder von erwachsenen Vorbildern lernen können:

Kinder ahmen vertrauensvoll Verhaltensweisen nach und übernehmen geistige Inhalte - ohne deren Sinn und Richtigkeit selbst überprüfen zu können. Dazu fehlen ihnen eigene Kenntnisse, Erfahrungen und Übersicht.


Glauben setzt eigene "Blindheit" voraus, weshalb man auch vom "blinden Glauben" spricht:

Ein Blinder gewinnt durch Sehende "Informationen", die er selbst nicht wahrnehmen kann. Doch er weiß nicht, ob sie wirklich richtig sind. Darauf kann er nur glaubend vertrauen.

Glauben und Vertrauen hängen daher eng zusammen:

Die Gläubigen vertrauen darauf, dass die Inhalte ihres Glaubens der Wahrheit entsprechen.


Grundsätzlich treffen jedoch die Glaubens- und Vertrauensprinzipien auf die Übernahme sämtlicher Informationen zu, die von anderen Menschen stammen. Egal ob sie mittels Bücher, durch Nachrichtenmedien oder von einem persönlichen Gegenüber zur Verfügung gestellt werden. Man ist erst einmal auf eigenes Vertrauen und die eigene Glaubensfähigkeit angewiesen, weil man die vermittelten Inhalte in der Regel unmöglich sofort überprüfen kann.

Umso wichtiger ist es, in kritischer Distanz dazu zu bleiben und Zweifel zu pflegen, bis man sichere Beweise erlangen kann.


Die geistige Entwicklung eines Menschen schreitet jedenfalls durch Zweifel und Fragen fort.

Zweifel und Fragen stellen die bewusstseinserweiternde Ergänzung wie auch den weiterführenden Widerpart zum Glauben dar.



2. Wissen

Frage: "Wie ist es wirklich?"


Wissen bedeutet überprüfte und beweisbare Kenntnis.

Das Streben nach Wissen zeichnet sich durch Wertschätzung aller aufkommenden Fragen und Zweifel aus.


Aus angeborener Neugier heraus ist sind Lebewesen um Kenntnisse über die Welt bemüht.

Neugier ist ein natürlicher geistiger Impuls, der uns Menschen von Anfang an lebensdienliche Informationen sammeln lässt.


Wissen wächst, wenn man Zweifel und Fragen zulässt und zuletzt auch gegenüber den eigenen Wahrnehmungen und Erfahrungen kritische Distanz bewahrt - statt ihnen einfach zu glauben.


Wissen hängt folglich nicht damit zusammen, dass man ganz fest glaubt. Es stellt nicht etwa die Steigerung des Glaubens, sondern dessen umfassende Infragestellung dar. Wissen muss beweisbar sein und allen Zweifeln und Fragen standhalten können.

Wissen ist das Ergebnis von kritischer Distanzierung und selbstkritischer Überprüfungen des vorher Geglaubten. Es gedeiht aus Zweifeln und Fragen und bleibt stets aufs Engste mit ihnen verbunden. Es schließt die Bewusstheit über die Möglichkeit eigener Irrtümer und Halluzinationen ein.


Im Unterschied zum festen Glauben gibt es kein festes Wissen. Da grundsätzlich offen gegenüber neuen Erkenntnissen ist es uneingeschränkt erweiterungsfähig. Wissen wird immer prozesshaft bleiben.


Maßstab für Wissen ist und bleibt die Realität - nicht das, was wir über sie denken und zu wissen meinen.


Die naturwissenschaftliche Methodik ist erste Wahl.


Genauso wenig wie ein festes Wissen kann es niemals ein umfassendes Wissen geben.

Die Realität ist viel zu komplex. Unendlich vielfältig und vielschichtig verändert sie sich zudem noch unablässig, so dass wir sie niemals vollständig erfassen können. Unsere menschlichen Wahrnehmungsfähigkeiten und geistigen Potenzen sind ihr gegenüber viel zu eng.

Wissen wird und muss daher stets prozesshaft bleiben.


Wenn man aufhört, sich der eigenen Beschränktheit bewusst zu sein und dem, was man zu wissen meint, nicht mehr mit Zweifeln und Fragen begegnet, gleitet man augenblicklich wieder in Glauben ab.


3. Verständnis

Frage: "Warum ist es so?"


Verständnis verknüpft das, was man weiß.

Es entsteht, indem man Abstand nimmt und in die Tiefe dringt.


Informationen bündelnd, Gemeinsamkeiten deklarierend und Zusammenhänge erforschend, versuchen wir, mit dem Verstand Wissenslücken auszugleichen, um das Gefühl eigener Lebenskompetenz und -sicherheit zu erhöhen.


Wissen an sich ist ja nicht nur stets unvollständig und unsicher sondern auch chaotisch.

Informationen stürzen fortwährend auf uns herein.

Der größte Teil wird unbewusst ausgefiltert, weil wir sonst bewusstseinsmäßig völlig überfordert wären.

Den Rest versuchen wir zu ordnen.


Im positiven Fall spiegelt das Gefühl des Verstehens eine entsprechende innere geistige Ordnung wider.

Sie entsteht, wenn anhand vorhandener Kenntnisse Begriffe und Kategorien gebildet, zusätzliche Informationen darin eingeordnet und Zusammenhänge gedeutet werden können.


Verständnis wächst, indem man Abstand nimmt, gleichzeitig aber auch tiefer in einen Sachverhalt eindringt, um Übersicht und Einsicht zu gewinnen.


Verstehen setzt zwar Kenntnisse über die Realität voraus, doch geht es auf der Verständnisebene selbst weniger um Informationen als um deren Interpretation.

Informationen interpretierend bildet man Theorien und Denkmodelle aus.

Sie suggerieren ein Verständnis der Wirklichkeit - selbst wenn sie am Ende sehr realitätsfern sein können.


Das Verständnis des Begriffs "Baum" täuscht z.B. das Verstehen aller Bäume vor und scheint die Kenntnis jedes einzelnen zu ersetzen. Was natürlich Irrtum ist. Schubläden sind nie der Realität entsprechend - da die Wirklichkeit grenzenlos vielfältig ist.


Das Gefühl, die Welt zu verstehen, ist aber grundsätzlich nur mit Hilfe von Modellen und entsprechenden Vereinfachungen möglich. Auch die differenziertesten Welterklärungsmodelle können daher die Realität nicht vollständig widerspiegeln und erklären.

Deshalb ist es wichtig, Realität und Denkmodell weder gleichzusetzen noch zu verwechseln.


Menschen, denen es eher um ein beständiges Gefühl von Sicherheit als um reale Lebenskompetenz geht, erachten jedoch ihre eigenen Überzeugungen in der Regel wichtiger als die Realität und sind oft mit alten, für sie selbst aber "sicheren" Glaubensmodellen zufrieden.

Wenn es dagegen um geistigen Fortschritt im Sinne realer Lebenskompetenz geht, ist es auf der Verständnisebene von besonderer Bedeutung, mit eigenen Zweifeln und Fragen verbunden zu bleiben. Ohne die eigene Beschränktheit im Auge zu behalten, gleitet man sehr leicht in lebensferne Überzeugungen ab.


4. Weisheit

Frage: "Was kann mir und anderen Menschen nützen, um gesund und glücklich zu leben?"


Mit Weisheit kann man den Bogen zum Leben schlagen, indem man das Verständnis der Außenwelt mit den eigenen tiefen Lebensimpulsen in Verbindung bringt.



Weisheit zeichnet sich durch Lebensnähe der Verständnisebene aus.


Weisheiten setzen gleichermaßen ein stimmiges Verständnis der Außenwelt wie den inneren Kontakt zu den eigenen tiefen Lebensimpulsen und Lebensmotiven voraus.


Ein weiser Mensch ist zu seinem eigenen "Wesenskern" vorgedrungen, woraus er Schlüsse ziehen und sie modellhaft auf das allgemeine "Menschsein" übertragen kann.


Wenn er andere Menschen mit seinen Erkenntnissen erhellend tief berühren kann, wird man ihn als weise bezeichnen.


In Weisheit verbindet sich ganz weit außen mit ganz tief innen.


"Was bewegt die Welt?" Und: "Was dient dem Leben?"

Beide zusammen sind die entscheidenden Fragen, die zu Weisheit führen.


Weisheit hat letztlich nichts mit Glauben zu tun.

Denn auch für Weisheit gilt grundsätzlich der Wert von Zweifeln und Fragen gegenüber allem, was man zu wissen und zu verstehen meint.