Freitag, 12. Mai 2017

Selbst und Selbstfindung


…“ was bedeutet dieses „selbst“ überhaupt, wenn es solo als Wort für sich oder in Begriffskombinationen wie Selbstverantwortung und Selbstfindung auftritt? Wenn wir von Selbst-Gesprächen oder Selbst-Erkenntnis reden, es in Selbstfürsorge, Selbsteinschätzung oder Selbstvertrauen verwenden oder mit -annahme, -bild, -kritik, -verständnis und -bewusstsein verknüpfen? Stets vorangesetzt, wobei sich in der Regel positive Bedeutungen ergeben, sofern nicht bereits im Hauptwort wie bei Selbst-Verletzung, Selbsttäuschung oder Selbstbetrug negative Bewertungen stecken. 
 Lediglich bei „selbstgerecht“ rutscht, obwohl es doch nur gut wäre, sich selbst gerecht zu werden, die Deutung der Wortkombination ins Negative, weil es so lange Zeit als schlecht angesehen wurde, wenn Menschen sich nicht nach außen bzw. oben richteten, sondern es wagten, sich ihrerseits „selbstgerecht“ als Maßstab zu nehmen. Denn im Herrschaftssinne hatte niemand das Recht und war demnach keiner berechtigt, sich selbst ein Recht zu kreieren. Doch genau auf diese Selbstermächtigung kommt es für ein selbstverantwortliches Leben an – weshalb „selbst“ wie „ich“ an sich aus alter Sicht „gefährlich“ sind und in manchen Kulturen als Begriffe kaum benutzt, in autoritären Strukturen weiterhin unterdrückt oder beim militärischen Drill zuallererst ausgetrieben werden, während dagegen Selbstbeherrschung und Selbstkontrolle nahezu überall weiterhin als etwas Positives gelten. Wo sind uns persönlich die Worte „ich“ und „selbst“ zuerst begegnet? 
Gewiss waren sie schon in der frühen Kindheit da, als wir anfingen, uns bewusst zu spüren und begannen, von „Ich“ zu reden – um uns „selbst“ damit zu positionieren: „Ich kann das selbst!“ „Ich mache das selbst!“ Und „ich will das selbst“ haben. Später: „ich weiß es selbst“, „entscheide ich selbst“, „bin ich selbst“ und besitze „selbst die Kraft dazu“, um schließlich 
irgendwann „selbst-bewusst“ aufzutreten und – hoffentlich auch tatsächlich – mit souveräner eigener Stärke durchs Leben zu gehen. 
Denn „selbst“ unterstreicht die eigenmächtige und eigenverantwortliche Komponente. Es steht für freie, befreiende und unbeherrschte Wesenszüge. Unbeeinflusst, unverbogen und unbezwungen. Autonom. Kraftvoll. Machtvoll. Fähig. Um allein und ohne äußere Einflüsse genau das zu tun, wozu es zumindest nach eigener Einschätzung keinen Hinweis, keinen Impuls und keinerlei Unterstützung von außerhalb braucht. „Selbst“ steht für das, was einfach ist. Innen. Mit elementarer Präsens und Potenz aus sich heraus. Es gehört zu uns, seit wir geboren wurden, auch wenn wir es anfangs noch nicht aussprechen konnten. „Selbst“, das sind wir, das bin „Ich“ im ureigenen Sinne – bereits bevor ich mich bewusstseinsmäßig damit verbinde.

„Selbst“ beschreibt die elementarste Ebene des eigenen Seins.

Wenn Menschen ihr tiefstes, noch weitgehend unbekanntes Inneres benennen wollen, wird daher häufig auch von „Selbst“ als eigenem Subjekt gesprochen. Das scheint sinnvoll, sofern es nicht etwas Esoterisches oder herkömmlich spirituell, metaphysisch erhöht, nach außen Gerichtetes meint. Hier im Text (Buch) steht das jeweils eigene „Selbst“ für das, was uns im Lebenskontext tiefer und authentischer als „Ich“ oder „Ego“ in unserem Innersten eben „selbst“ ausmacht – und beschreibt. 
 Das tiefe innere „Selbst“ ist somit jene Instanz, die uns als Individuen leben lässt und mit dem Wichtigsten ausstattet, was wir dazu brauchen. Eine Essenz aus Jahrmillionen Leben. Unser evolutionäres Erbe mit all jenen Faktoren, die uns niemand lehren, geben oder nehmen könnte, weil sie von Anfang an zu uns gehören. Tief verankert in uns selbst – weil wir existentiell darauf angewiesen sind. Wie auf den Atemreflex. Den Impuls zu wachsen. Die Fähigkeiten zu tasten, zu schmecken, die Augen zu öffnen, an Zitzen zu saugen, zu verdauen oder ggf. wieder auszuspucken. 
Unwillkürliche Bewertungen wie „angenehm“ und „unangenehm“ zählen ebenfalls mit ihren ursprünglichen Einstufungsschablonen dazu. Reaktionspotentiale wie schreien, greifen und lächeln. Die Unlust, Schmerzen oder Druck zu empfinden. Das Bedürfnis nach Nähe. Die Freude am Wachsen und Bewegen. Die Neugierde. Die Lust am Spielen, Lernen und Imitieren – damit wir uns weiter entfalten, Informationen fähiger koordinieren und schließlich immer mehr Lebenskompetenzen mit einem bewussten „Ich“ ausbilden. Niemand könnte uns all dies von außen beibringen. Das tiefe Selbst ist wie der Stoffwechsel immanent und untrennbar Teil von uns. Der lebendige Kern unseres Seins, der gleichermaßen abgrenzend wie eigen und dennoch verbindend, mit lediglich kleinen individuellen Nuancierungen dem allgemeinen menschlichen Wesen entspricht. Das Selbst ist die Basis. Alles andere, was hinzukommt, baut darauf auf – weil es das Selbst unbedingt dazu braucht. Auch das bewusste Ich ist nicht mit dem eigenen Sein oder „Selbst“ identisch, weil der archaische Lebenskern an sich lange vor der Ausbildung eines Ichbewusstseins entstanden ist. Folglich bin „ich“, wenn „ich“ zurücksehe, im Sinne von „selbst“ nicht meine Geschichte oder das Ergebnis dessen, was „ich“ erlebte. Mein „Selbst“ ist elementarer, steht dahinter oder darüber und hat mich von Anfang an zu jenem Wesen gemacht, welches das bisher Erlebte durchlebte – und dabei seinerseits genoss oder litt…“
Auszug aus "Miteinander in Freiheit nah – LIEBE  LEBEN  LEBENSKUNST"
http://www.lebenskunst-atelier.de/Liebe